Flensburger Tageblatt: Vor 250 Jahren: Todesurteil für den Revolutionär aus Schleswig-Holstein – Struensee
Aufsteigertum, Sex, Reformeifer, Risiko: Das alles vereint die Geschichte von Johann F. Struensee, dem königlichen Leibarzt, der einst im Schatten eines geistesschwachen Königs die dänischen Staatsgeschäfte an sich riss
Schon die Zuschauerzahl macht deutlich, dass Außerordentliches passieren wird: Um die 30000 Schaulustige haben sich am Stadtrand Kopenhagens rund um das Schafott versammelt. 6000 Soldaten säumen die Szenerie und unterstreichen den hochoffiziellen Charakter des Ereignisses. Eskortiert von 200 Infanteristen mit aufgepflanztem Bajonett und ebenso vielen Waffenträgern hoch zu Pferde fährt die Kutsche mit dem Delinquenten vor. Edel in einen blausamtenen Anzug mit einem Pelzüberzug ist er gekleidet. Das soll unterstreichen, dass hier nicht über irgendjemanden gerichtet wird. Bevor die Hauptperson selbst dran ist, muss sie miterleben, wie ihr mitangeklagter Assistent gevierteilt wird. Dann ein paar letzte Schritte hinauf auf ein Podest. Das Urteil angehört, die Kleider abgelegt, den Kopf auf den Richtblock gelegt – und der Henker schlägt zu. Erst nach dem zweiten Versuch ist die rechte Hand ganz abgetrennt, nach dem dritten der Kopf. Johann Friedrich Struensee ist tot.
Dänemark als Vorreiter der Aufklärung in Europa
So grausam endet am 28. April 1772 das Leben eines Mannes, der als Pionier der Zivilisation in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Als erster radikaler Anhänger der Aufklärung besaß er die Macht, der Moderne politisch den Weg zu bereiten. Struensee nahm vieles vorweg, das erst die Französische Revolution knapp zwei Jahrzehnte später bekannter gemacht hat. 16 Monate lang hat er damit das dänische Königreich unter Einschluss der Herzogtümer Schleswig und Holstein zu einem Vorreiter in Europa gemacht.
Hätte Schleswig-Holstein damals nicht der dänischen Krone unterstanden, hätte die historische Ausnahmegestalt ihren Dienstherren, König Christian VII., wohl nie kennengelernt. Struensee ist Arzt. Er praktiziert seit 1758 in Altona, noch lange nicht in Hamburg eingemeindet, sondern größte Stadt Holsteins. Auch das Umland bis Pinneberg und Elmshorn zählt zum Wirkungskreis des aus Halle gebürtigen Mediziners. Struensees familiärer Hintergrund befördert seine Bekanntheit in gehobenen Kreisen: Der Vater ist zunächst Propst in Altona, ab 1759 Bischof von Schleswig und Holstein mit Wohnsitz in Rendsburg. Auch Adlige mit Zugang zum dänischen Hof kennen und schätzen den tatendurstigen Dr. Struensee.
Weichenstellung in Gottorf oder Ahrensburg
Der 19-jährige König trifft auf den Mediziner, als der Monarch im Juni 1768 zu einer gut sechsmonatigen Bildungsreise nach England und Frankreich aufbricht. Auf dem Weg durchquert er Schleswig und Holstein. Dabei wird Struensee der Majestät vorgestellt. Ob auf Schloss Gottorf oder Ahrensburg, ist nicht eindeutig überliefert. Beide tauchen in verschiedenen Quellen auf, beide sind plausibel. Gottorf ist zu der Zeit Residenz eines königlichen Statthalters und immer wieder Anlaufstelle, wenn sich Kopenhagener Monarchen in den Herzogtümern aufhalten. Schloss Ahrensburg in Stormarn hat sich gerade der dänische Finanzminister Heinrich Carl von Schimmelmann als privates Refugium gekauft. Jedenfalls fühlt sich der eigentliche königliche Leibarzt zu betagt, um die lange Reise mitzumachen. Christian VII. aber braucht eine ärztliche Begleitung, weil er Anzeichen von Schizophrenie aufweist.
Plötzlich wirkt der schizophrene König normal
Die Entourage schwankt zwischen Begeisterung und Erstaunen, wie gefestigt und normal die Majestät unter dem Einfluss des deutschen Arztes auf der Reise wirkt. Es geht an die Königshöfe in London und Versailles, an Akademien und Universitäten. In Oxford wird Struensee die Ehrendoktorwürde verliehen.
Da Patient und Behandler so gut miteinander können, bleibt der Mann aus Altona nach der Rückkehr im Januar 1769 in königlichen Diensten. Eingestellt ist der Neuling in Kopenhagen zunächst nur als Leibarzt, rasch kommt der Titel „Königlicher Vorleser“ hinzu. Diese Funktion entwickelt sich dahin, dass Christian nur aus Schriftstücken vorgetragen wird, die durch Struensees Hände gehen. Zugleich wird die „Vorlese“-Tätigkeit für den Vertrauten zum Einfallstor, seine Sicht in Regierungsgeschäfte einzubringen.
Noch intensiver als um den König kümmert sich der Arzt um die Königin, die von ihrem Gemahl links liegen gelassene 18 Jahre alte Caroline Mathilde. Alle Welt ist überzeugt, dass eine Tochter, Prinzessin Louise Augusta, aus dieser Verbindung hervorgegangen ist; wenn auch offiziell Christian die Vaterschaft zugesprochen wird. Befragungen von Hofbeamten deuten auf ein Verhältnis schon im Frühjahr 1769 hin; ein Jahr später bilden Arzt und Königin ohne Versteckspiel ein Liebespaar. Den erotisch auch immer wieder anderweitig aktiven König kümmert das nicht. Im Sommer 1770 unternehmen alle drei sogar gemeinsam eine lange Reise nach Schleswig-Holstein, wo sie erst auf Gottorf und dann hauptsächlich auf Schloss Traventhal in Südholstein residieren.
Pressefreiheit, Folterverbot, Gleichheit
Danach leitet Struensee ab September mit Vollgas seine eigentliche Reformperiode ein. Nach Ausschaltung des führenden Ministers wird der Arzt de facto Alleinherrscher. Der geisteskranke König unterschreibt ihm, was der will. Im Juli 1771 legt ein Erlass sogar fest: Von Struensee allein ausgefertigte Bestimmungen haben dieselbe Gültigkeit wie vom König unterzeichnete. 1880 Kabinetts-Verordnungen erlässt Struensee. Pressezensur und Folter werden abgeschafft, die Todesstrafe auf schwerste Verbrechen begrenzt. Alle Menschen werden vor dem Gesetz gleichgestellt. Polizisten dürfen Wohnungen erst nach richterlichem Beschluss durchsuchen. Ehebruch wird straffrei. Für alle Sechs- bis 14-Jährigen besteht Schulpflicht.
Aber es geht auch um Verzicht: Der Reformer streicht aus katholischen Zeiten übriggebliebene Feiertage, ebenso dritte Feiertage zu Weihnachten und Ostern. Er macht Schluss mit der inflationsartigen Vergabe von Titeln und übertriebenen Privilegien im Umfeld des Hofs. Vor allem verschlankt er die Staatsausgaben des überschuldeten Königreichs. Viele Beamte werden entlassen, dem Militär wird eine Rosskur verordnet. Es soll das Land weiter verteidigen, nicht mehr aber Angriffskriege führen. Sogar die königliche Leibgarde will Struensee streichen. Ein Einschnitt derart dicht im eigenen Umfeld erweist sich als verhängnisvoll: Das lässt die Eliteeinheit nicht mit sich machen. Sie solidarisiert sich mit ebenfalls enttäuschten Beamten und weiteren Hofkreisen, denen die Macht des Emporkömmlings ohnehin ein Dorn im Auge ist. Angeführt wird die Fraktion von der Stiefmutter des Königs, Juliane Marie. Sie will auf dem Thron statt des halbverrückten Christian VII. ihren jüngeren Sohn aus der zweiten Ehe von Christians Vater sehen.
Weite Teile der öffentlichen, dank neuer Pressefreiheit umtriebigen Meinung haben die Verschwörer auf ihrer Seite. Vor allem moralisch wird an Struensee gemäkelt. Außer an seiner unehelichen Beziehung zur Königin stört man sich an einer Stiftung, die er für eine „Babyklappe“ gegründet hat: Ungeplant Schwangere können ihre Säuglinge dort anonym abgeben. Auch dass er kein Dänisch spricht, wird dem Machthaber als Makel angekreidet.
Verschwörung nach dem Maskenball
Am 16. Januar 1772 endet die spektakuläre Behandlung der dänischen Staatsgeschäfte durch den Doktor. Im Nachklapp eines Maskenballs auf Schloss Christiansborg schlagen die Palast-Revolutionäre zu: Noch in der Nacht werden Struensee und die Königen aus ihren – in jedenfalls da getrennten – Betten verhaftet. Caroline Mathilde wird nach ein paar Monaten auf Druck ihres Bruders, des englischen Königs, von Dänemark ausgeliefert. England ist damals mit dem Königreich Hannover in Personalunion verbunden. Deshalb erhält sie Schloss Celle als Residenz, wo sie schon 1775 stirbt. Struensee verbringt seine letzten Monate im Kerker der Kopenhagener Stadtfestung Kastell.
Ein Sondergericht verhört ihn und als Zeugen jede Menge Hofpersonal bis hinunter zu Stubenmädchen und Kammerzofen vor allem über sein Verhältnis mit der Königin. Für eine regelrecht illegale Machtübernahme finden die Ermittler nicht genügend Anhaltspunkte. Es lässt sich nicht beweisen, dass irgend etwas daran ausdrücklich gegen den Willen des Monarchen gewesen wäre. So lange das nicht der Fall ist, ist der Absolutismus als Staatsform nicht beschädigt. Die Mitwirkung am Ehebruch bleibt das einzige, was sich juristisch zu einer Todesstrafe zurechtbiegen lässt, auch schon nach damaliger Paragrafenlage nur sehr freihändig: als „Verbrechen gegen seine Majestät, den König“.
Aber auf einen Blutzoll mögen die Umstürzler nicht verzichten: Sie wollen den Autoritätsschub mitnehmen, den eine Hinrichtung für ihr eigenes, kaum besser legitimiertes Regime bedeutet. Und nur mit einer Leiche können sie ihre Furcht besiegen, dass ein bloß abgesetzter Struensee vielleicht doch später die Macht zurückerobert. Insofern liegt in dem Beschluss des grausamen Endes auch ein Anerkenntnis des Ausnahme-Doktors selbst durch seine ärgsten Feinde.
Frank Jung
Flensburger Tageblatt (28.04.2022)